Anne Kersting
Künstlerische Leitung von Meeting Point Dramaturgy
Auf die häufig gestellte Frage, was (Tanz)dramaturgie sei, würde ich als Dramaturgin und in der Kürze eines Textes sagen, dass Dramaturgie ohne ihren Untersuchungsgegenstand nichts ist.
Dramaturgie beginnt zu sein, wenn sie eine Haltung zu ihrer Umgebung annimmt: Zum bevorstehenden Projekt, zum Team als eine Konstellation unterschiedlicher Persönlichkeiten, Lebenskontexten, Interessen und Arbeitsansätzen, zu den koproduzierenden und einladenenden Institutionen und zu den Publika, auch sie als mehrere Ansammlungen von Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Lebenskontexten und Interessen. Dramaturgie entsteht in Beziehung zu den Menschen, die sie brauchen. Ich habe aber weniger das Bedürfnis Dramaturgie mit einer Definition zu versehen, als sie vielmehr Folgendes zu fragen: Wo verortet sie sich im kulturschaffenden Sektor, wo sind ihrer Verantwortungs- und Wirkungsbereiche und mit wem ist sie im Dialog?
Ich denke mal ihre Arbeitsaufträge rückwärts und beginne bei dem Moment nach der Aufführung.
5) Was nach der Aufführung bleibt, ist der Anlaß den sie bot: Zusammenkunft und Begegnung, bei der die gastgeberische Kompetenz von Dramaturgie gefragt ist.
4) Die Aufführung läuft und die Dramaturgie hat in einem mehrwöchigen Aushandlungs- und Abwägungsprozess mit dem künstlerischen Team und dem Haus dafür Sorge getragen, dass die Aufführung teil- und rezipierbar ist.
3) Die Hälfte der Probenzeit ist durch und es ist der Moment, wo Dramaturgie das Team zu einem Perspektivwechsel auffordert und das Probenmaterial auf seine Aufführbarkeit, seine Aufführungsgründe und seine Aufführungslust hin befragt.
2) Wir sind schon fast am Anfang angelangt: Die Proben beginnen und somit auch die Zusammenführung von Menschen, die temporär eine Gruppe bilden werden. Vielleicht ist dies der fragilste Moment von Dramaturgie, weil die Ressourcen und Ethiken der Einzelnen weder übersehen noch mißachtet werden sollten.
1) Bei all dem ist die aller erste Antrags- und Konzeptphase der spekulativste und unverfänglichste Moment von Dramaturgie, weil sie zu dem Zeitpunkt noch ungebunden ist.
Inmitten dieser diversen Dramaturgien befrage ich zunehmend den Produktionsauftrag von Tanz & Performing Arts und darin die kulturpolitische Funktion von Dramaturgie: Welche Dispositive der Wissenteilung stellen künstlerische Teams den Menschen zur Verfügung, die sich ihnen entweder als Performer*innen anschließen, oder aber als Publika? Was – im Zeitraum eines Produktionsprozesses und seiner Aufführung – geben Künstler*innen, das genommen werden möchte und was nehmen sie sich, um es in ihre Arbeit zurückfließen zu lassen?
Die Frage nach dem relationalen Bindungspotenzial künstlerischer Interventionen ist nicht neu. Als dringend zu vermerken, erachte ich widerrum ein postpandemisch und sozial sich veränderndes Verständnis von Aufführungen: Wozu laden Künstler*innen ein, wenn sie aufführen und wie können sie als Gastgeber*innen den wiederum Gastnehmer*innen auf Augenhöhe begegnen und Interessen teilen?
Während also der Tanz, sowie seine Dramaturgien längst nicht mehr nur ihren Begriff erweitern, sonden auch ihr ethisches Interesse an der sozialen und relationalen Sphäre, ist im Jahre 2021 MEETING POINT DRAMATURGY entstanden, eine Tanzpakt Reconnect geförderte Weiterbildungspattform für Tanzdramaturg*innen zur Frage, wie wir heute produzieren wollen und wie sich Dramaturgie in diesem Wir positioniert.
5 erste Episoden haben zwischen Juni 2022 und Juni 2023 in Kooperation mit K3-Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg, HELLERAU- Europäisches Zentrum der Künste, Sophiensale Berlin und dem Performing Arts Festival Berlin stattgefunden und 12 freie Dramaturg*innen in der Selbstbefragung ihres ästhetischen, kulturpolitischen, ethischen und soziologischen Feldes begleitet.
Diese 5 ersten Episoden von MEETING POINT DRAMATURGY dienten einer multiperspektivischen Analyse bestehender, sowie neu zu denkender Kriterien von Produktion, Wissenstransfer, Vermittlung, Distribution und Zusammenarbeit mit Häusern, und ermöglichten einen kontinuierlichen Austausch und einer Weitergabe dramaturgischer Best Practice Modelle.
„Wie tun wir das, was wir tun?“: Unter dem Gesichtspunkt einer Revision des dramaturgischen Arbeitsfeldes startete die Initiative Meeting Point Dramaturgy zur Gründung einer Weiterbildungsplattform für und von Dramaturg*innen aus Tanz & Performing Arts.
Als bundesweite Plattform für einen Austausch dramaturgischer Praktiken wird MEETING POINT DRAMATURGY zukünftig ihren Blick auf künstlerische Gastgeberschaft im Sinne einer kommunikations- und interessensbasierten Vermittlungsarbeit richten und neben ihrem dramaturgischen Weiterbildungsauftrag für Dramaturg*innen selbst als empirisch forschende Gastgeberin fungieren und, zur Frage nach dem zeitgenössischen Auftrag von Tanz und Performing Arts, offene Dialogformate zwischen Kunstschaffenden Publika, Kultur- und Förderinstitutionen veranstalten. Als Weiterbildungsplattform für Dramaturg*innen und gleichzeitig als dramaturgische Austauschplattform für Kunstschaffende wird MEETING POINT DRAMATURGY Aufführungen als öffentliches Format neu abwägen und sie, jenseits ihres ihnen zugrundeliegenden künstlerischen Ereignisses, als ein Anlass zur Begegnung, zur Kommunikation, zur Wissensteilung und zur Interaktion befragen.
Hierzu wird MEETING POINT DRAMATURGY ihr Augenmerk auf die Zusammenarbeit von Choreografie/Regie und Dramaturgie richten und der Frage nachgehen, wozu Kunstschafende einladen, wenn sie aufführen und an wen richten sich die Einladung richtet.